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Eine Ewigkeit zu früh


Wie lange ich durch das Universum bereits reise, kann ich unmöglich sagen. Die Zeit hat für mich jegliche Bedeutung verloren. Vielleicht dauert meine Odyssee mehrere Jahrzehnte, doch wahrscheinlich handelt es sich nur um ein paar Stunden. Denn der Sauerstoffvorrat meines Weltraumanzuges ist weiterhin im grünen Bereich. Es ist sonderbar, wie sehr man sich den Tod herbei wünscht, wenn man unaufhaltsam von einem Schwarzen Loch angezogen wird. Furcht und Panik beherrschten mich im ersten Augenblick, als unser Raumschiff von einem Asteroidenhagel zerstört wurde. Meine Crewmitglieder wurden in alle Richtungen verstreut und ich habe das Pech von einem toten Stern verschlungen zu werden. Unsere Forschungsarbeiten am Schwarzen Loch hatten soeben erst begonnen, doch recht bald werde ich mehr erfahren, als es mir lieb wäre.


Wird mich die enorm starke Gravitation in die Länge ziehen? Was werde ich sehen, sobald ich den Ereignishorizont passiert habe? Komme ich am anderen Ende wieder heraus? Viele Fragen, auf die ich keine Antworten weiß. Ich bin der erste Mensch, der seinen Fuß auf oder besser gesagt in ein Schwarzes Loch setzt. Doch leider ist es eine Landung ohne Wiederkehr. Vermutlich werden später keine Heldengeschichten über mich erzählt. Und ich erhalte weder eine Medaille noch Ruhm. Ein Teil von mir ist davon überzeugt, dass ich den Fall in das endlose Nichts überlebe. Die Schwerkraft zieht mich erbarmungslos zu sich und ich verjage meine Angst. Die Neugierde darüber, was gleich passiert, ist größer. Ich spüre die gewaltige Gravitation nun überall an meinem Körper zehren und dann geschieht es.


In einer Millisekunde überquere ich die Grenze zwischen dem Licht und der Dunkelheit. Alles um mich herum wird schwarz. Ich bin allein. Niemand wird kommen, um mich zu retten. Mein Atem wird langsamer und ich werde ganz ruhig. Alles, was in meiner Vergangenheit mir wichtig war, erscheint nun bedeutungslos. Meine Zukunft ist ungewiss. Doch etwas in mir verzweifelt nicht daran, sondern ist weiterhin gespannt, was passiert. Ich sehe direkt vor mir etwas weißbläulich aufleuchten. Ein kleiner Funke oder etwas in der Art. Ich kann es unmöglich beschreiben. Mit rasender Geschwindigkeit komme ich dem Unbekannten näher. Und im nächsten Moment bremse ich abrupt ab und schwebe in der Schwerelosigkeit. Der Funke stellt sich als undefinierbare Masse aus hellblauem Licht heraus.

Es verändert stetig seine Form. Ich bewege meine Arme und Beine wie beim Schwimmen, um näher an das sonderbare Ding zu gelangen. Unmittelbar davor bleibe ich schweben und strecke meine Hand danach aus. Im selben Augenblick formt sich die Masse zu einem Menschen und ich starre fassungslos mein eigenes Abbild an. Es sieht genauso aus wie ich und schimmert wie ein Glühwürmchen in der Nacht.


„Wer oder was bist du?“, frage ich perplex.

„Ich bin du“, antwortet mein leuchtendes Spiegelbild.

„Bin ich etwa tot?“, wollte ich wissen.

„Nein, dafür ist es eine Ewigkeit zu früh.“

„Eine Ewigkeit zu früh?“

„Ja, Raum und Zeit sind hier unendlich. Die Vergangenheit, die Gegenwart und die Zukunft existieren zur selben Zeit. Du repräsentierst die Vergangenheit und ich bin die Zukunft. Wir treffen uns hier in der Singularität.“


Ich betrachte mein zukünftiges Ich und bin fasziniert von der Selbstsicherheit und Stärke in seinen Augen.

„Du bist voller Zuversicht“, stelle ich fest. „Keine Spur von Selbstmitleid.“

„Wie sollte es auch anders sein?“, entgegnet mein Ebenbild und wird dabei immer heller, bis sein Licht mich fast blendet. „Du hast dich mutig dem Abgrund gestellt und wurdest von den Kräften nicht zerrissen. Stattdessen bist du hier bei mir und es fehlt nicht mehr viel, bis du begreifst, wie stark du bist.“

„Was wird passieren, wenn es so weit ist?“, frage ich und kneife meine Augen zusammen.


Das Leuchten umhüllt mich ganz und ich werde von dessen Wärme durchströmt. Mir wird plötzlich bewusst: dass ich im Leben keine Erwartungen erfüllen muss; kein materielles Bestreben brauche; jeder seinen eigenen Standpunkt vertreten darf und soll; ich frei und glücklich bin, wenn ich mich dazu entschließe, denn über meine eigene Zukunft entscheide nur ich. Die Erkenntnis ist so einfach und dennoch erfordert sie meine ganze Willenskraft. Noch nie zuvor habe ich so viel Liebe zum Leben empfunden.


Ich atme aus und spüre mit jeder Faser meines Körpers, wie ich gleiße, und öffne langsam die Augen. Vor mir sehe ich den Planeten Erde und ein Raumschiff, welches sich langsam dem schwarzen Loch nähert.

Dann drehe ich mich um und erblicke mein Spiegelbild in der Dunkelheit. Mein vergangenes Ich hält sich die Hände vors Gesicht und schweigt. Vor wenigen Sekunden stand ich noch an seiner Stelle und dachte an den Tod, doch nun kenne ich die Antwort auf meine letzte Frage und rufe mir zu, bevor ich von den Gravitationskräften in mein neues Leben katapultiert werde: „Du rettest dich selbst! Und die Welt gehört dir!“

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