Blitz & Donner - Kapitel 1 - Die Ankunft
- blitz-und-donner-r
- 23. Nov. 2024
- 4 Min. Lesezeit
Aktualisiert: 5. Dez. 2024

1. Mai 1875
„Mama, wir sind da! Endlich sind wir angekommen!“, kreischten Jane und Veronika im Chor. Melanie saß in der zweiten Kutsche zusammen mit ihrem Vater und ihrem Bruder Jakob und hörte die aufgeregten Stimmen ihrer zwei Schwestern, die gemeinsam mit ihrer Mutter in der ersten Kutsche vorausfuhren. Sie schaute aus dem Fenster und erblickte das große Anwesen, das auf einem Hügel thronte. Das prachtvolle Gebäude war vor Kurzem erst in Zitronengelb gestrichen worden und man roch noch immer die frische Farbe. Die Fenster, Türen und Säulen waren reinweiß gehalten und zeugten von der zarten Unschuld, die ab dem heutigen Tage hier wohnen würde. Das große Haus lag umringt von einem großen und üppigen Garten, der wie ein Park angelegt war und zu langen Spaziergängen unter den wohlduftenden Fliederbäumen einlud. Melanie gab zu, dass ihr neues Zuhause absolut bemerkenswert aussah, aber es weckte keinerlei Begeisterung in ihr. Ihre Gedanken flogen stattdessen weit weg, wie ein Schwarm Vögel, und kehrten zurück in die alte Heimat. Die beiden Kutschen passierten das große, schwarze Tor, fuhren das letzte Stück bis zum Eingang und hielten dort an. Vier Diener warteten auf die ankommenden Herrschaften. Sie eilten zu den zwei Kutschen und halfen dem Baron von Bouget und seiner Familie auszusteigen. Die Baronin und ihre ältesten Töchter benahmen sich wie drei aufgeregte Hühner, die aus ihrem langjährigen Schlaf in der Einöde aufgescheucht wurden, und liefen vor Freude kreischend in das Gebäude hinein. Im großen Foyer nahm eine Schar von Bediensteten sie in Empfang, die sich in einer Reihe aufgestellt hatten. Der Butler begrüßte seine neue Herrin mit einer tiefen Verbeugung. Sein Name war Emanuel Bernard und er arbeitete in dem großen Anwesen bereits seit über dreißig Jahren. Er erblickte das wilde Treiben der drei Damen, die sich an der Schönheit ihres neuen Heims nicht sattsehen konnten, und runzelte die Stirn. Denn Monsieur Bernard war in seinen langen Dienstjahren eindeutig bessere Manieren gewohnt gewesen.
Melanie stieg nur langsam, fast schon widerwillig aus der Kutsche aus und stellte sich neben ihren Vater und ihren Bruder, die das Gelände betrachteten. Sie hörte das Lachen ihrer Mutter und die entzückten Rufe ihrer Schwestern nach draußen schallen. Merkwürdigerweise verlockte dieses erhabene Anwesen sie nicht dazu, reinzugehen. Sie empfand es mehr wie ein Gefängnis, für das sie ihre Freiheit aufgegeben hatte. Melanie atmete schwer aus, drehte sich nach rechts um und trottete an das hintere Ende der Kutsche, um das dort angebundene Pferd loszubinden. Es handelte sich um ihren Hengst Nero. Er war ihr bester Freund und er freute sich, von seiner Besitzerin am Hals gekrault zu werden. Nero war das Einzige, das Melanie aus ihrem alten Leben in der Provinz hatte behalten dürfen. Sie hatte alles aufgeben müssen: ihre liebgewonnenen Kameraden vom Lande, ihren Bauernhof und nicht zu vergessen ihre Unbekümmertheit. Sie war hier an diesem Ort voll hoher Erwartungen und Regeln gefangen. Am liebsten wäre sie auf Neros Rücken gestiegen, um augenblicklich dem Ganzen zu entfliehen, doch ihr Pflichtgefühl gegenüber ihrer Familie hinderte sie daran.
Alle Mitglieder ihrer Familie hatten sich mehrheitlich dafür entschieden, in ihr neues Leben zu ziehen. Melanie war die Einzige gewesen, die dagegen gestimmt hatte.
„Komm, Nero, lass uns den Pferdestall suchen, du hast sicherlich Durst“, flüsterte sie dem pechschwarzen Vollblut leise ins Ohr.
„Liebling, möchtest du das nicht von einem Diener erledigen lassen?“, fragte der Baron seine jüngste Tochter und erinnerte sie daran, dass sie ab sofort eine Person aus der ersten Klasse der Gesellschaft war, die solch niedere Tätigkeiten nicht mehr selbst verrichtete.
„Nein, Papa. Ich muss wissen, wo Neros neue Box ist und ob er gut versorgt wird“, entgegnete Melanie.
„In Ordnung. Jakob, bitte begleite deine Schwester“, erteilte der pensionierte Offizier eine kurze, aber klare Anweisung an seinen Sohn, der ihr daraufhin Folge leistete.
Es dauerte eine kurze Weile, bis Melanie und Jakob den Pferdestall gefunden hatten. Das Gelände war groß und der Stall lag etwas abseits vom Hauptgebäude, damit der Geruch der Tiere und derer Hinterlassenschaften die feinen Nasen der Obrigkeiten nicht störten. Er bot für mindestens zwanzig Pferde Platz, wobei im Augenblick dort nur vier untergebracht waren. Melanie suchte sich die schönste Box aus und führte Nero hinein. Jakob brachte einen Eimer voll Wasser und goss den Inhalt in die Pferdetränke. Das Pferd trank lange, bis es sich dem frischen Heu zuwandte und zufrieden darauf herumkaute.
„Es ist hier schon ganz anders als in unserem alten Zuhause in der Provinz“, stellte Jakob fest. „Wir haben nun viel mehr Platz, Schwester.“
„War unser altes Leben denn jemals so beengt, dass wir es verlassen mussten?“, fragte Melanie traurig.
„Unsere Familie ist nun adelig. Vater hat vom Kaiser den Titel des Barons von Bouget verliehen bekommen, zusammen mit diesem Anwesen. Wir können uns glücklich schätzen, dass uns die Türen zu einem neuen und besseren Leben geöffnet wurden. Vielleicht siehst du es irgendwann auch ein, Schwesterherz“, erklärte Jakob mit einem leichten Grinsen.
„Vielleicht“, antwortete Melanie kurz. Doch sie wurde das Gefühl nicht los, an diesem Ort weniger Luft zum Atmen zu haben. Vermutlich hing es mit den Plänen ihrer Mutter zusammen.
Melanie und ihre Schwestern Jane und Veronika waren im heiratsfähigen Alter, wobei Melanie erst in wenigen Monaten ihr achtzehntes Lebensjahr vollenden und damit volljährig werden würde. Ihre Mutter hatte den ehrgeizigen Plan gefasst, sie drei vorteilhaft zu verheiraten, am besten in die vornehmsten Familien der Hauptstadt. Nach einer kurzen, aber intensiven Unterredung mit ihrer Mutter hatte Melanie sie davon überzeugt, zwei Jahre mit ihrem Debüt zu warten. Ihr Hauptargument war gewesen, sie sei nicht reif genug, um sich einen Ehemann auszusuchen. Jane und Veronika, die zweiundzwanzig und zwanzig Jahre alt waren, sollten zuerst in die Gesellschaft eingeführt werden, ohne dass ihre kleine und wilde Schwester alles vermasselte. Die Baronin hatte schnell eingelenkt, weil sie Melanies Meinung teilte. Wenn die Familie von Bouget von Beginn an ein tadelloses Auftreten in der High Society aufweisen wollte, dann musste die unverbesserliche Querulantin Melanie vorerst im Hintergrund bleiben. Jane und Veronika hingegen waren ausgesprochen manierlich und von erhabener Ausstrahlung, abgesehen von ihrer lautstarken Begeisterung für Luxus. Die jüngste Tochter hatte zwei Jahre Schonfrist bekommen und sie schickte ein kleines Gebet gen Himmel, dass diese Zeit reichen würde, um sich an das Gefühl der Gefangenschaft zu gewöhnen.
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