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Kapitel 2 - Die Nachbarn


2. Mai 1875


Die erste Nacht im neuen Zuhause war ausgesprochen erholsam gewesen. Zum ersten Mal in ihrem Leben hatte Melanie mit niemandem aus ihrer Familie den Schlafplatz geteilt. Sie besaß ein eigenes, geräumiges Zimmer mit einem bequemen Bett, einem Schreibtisch mit Stuhl und sogar einem kleinen Sofa mit einem Couchtisch. Direkt daneben befand sich Melanies eigenes Bad mit Ankleidezimmer. Die Gemächer ihrer Geschwister waren gleichermaßen ausgestattet. Wobei das Schlafzimmer von Jane etwas größer war und beneidenswerterweise über einen Balkon verfügte. Zu ihrer Beschämung hatte Melanie sich einen Tag zuvor in dem großen Anwesen zwei Mal verlaufen. Auf ihrer unfreiwilligen Erkundungstour hatte sie eine gigantische Bibliothek im dritten Stockwerk entdeckt. Melanie hatte sich sofort auf die Atlanten und Geschichtsbücher gestürzt und eine ganze Stunde damit verbracht, sie zu durchstöbern, bis eine Dienerin sie zum Abendessen gerufen hatte.


Nachdem Melanie mit ihrer Morgentoilette fertig war, flitzte sie die steinerne Haupttreppe runter in den Salon, in dem sich die gesamte Familie zum Frühstück versammelt hatte. Sie betrat den Salon und die meisten Familienmitglieder saßen am Tisch, nur Veronika fehlte. Vermutlich verbrachte sie schon Stunden damit, ihre Haare zu frisieren. Sie war erst dann zufrieden, wenn ihr Kleid zu ihrem Aussehen passte, sonst würde sie ihr Zimmer nicht verlassen. Und Melanie hatte recht. Fünf Minuten später kam Veronika herein und trug ein romantisches Kleid mit vielen Rüschen und rosafarbenen Blumen darauf. Ihr Haar hatte sie zu einem eleganten und voluminösen Zopf geflochten, der seitlich auf ihrer Schulter lag. Ihre weißen Schuhe mit Schleifen rundeten das unschuldige Sommeroutfit ab. Sie setzte sich direkt gegenüber von Jakob. Ihr Bruder betrachtete sie grinsend und sagte: „Die Überstunden vor dem Spiegel haben sich wirklich gelohnt. Du hast dich heute beim Herrichten selbst übertroffen.“

„Deine charmanten Kommentare zählen nur dann, wenn sie auch wirklich ernst gemeint sind“, ermahnte Veronika ihn und ging davon aus, dass ihr kleiner Bruder sich nur über sie lustig machte.

„Ich könnte nicht aufrichtiger sein“, dachte Jakob und sah leicht lächelnd zu ihr rüber.

„Ich sehe, wir sind vollzählig“, stellte der Baron fest. „Dann können wir mit dem Essen beginnen.“ Mit einer Handbewegung gab er den Bediensteten zu verstehen, die heißen Getränke zu servieren. Melanie legte sich den leckeren Räucherlachs auf den Teller, da läutete es am Haupteingang. Alle anwesenden Personen schauten sich fragend an.

„Es ist doch erst halb zehn am Morgen. Wer kann das sein?“, wunderte sich die Mutter. Wenige Sekunden später kam der Butler in den Salon und verkündete: „Madame, die Baronin von Semur und ihre Tochter sind soeben eingetroffen.“

„Die Baronin von Semur? Wer soll das sein, Mama?“, fragte Jane. Doch ihre Mutter war genauso ratlos wie sie.

„Die Baronin von Semur besitzt das Land, das an das Eure grenzt, Monsieur le Baron. Das Semur-Anwesen liegt zehn Kilometer von hier entfernt“, erklärte der Butler.

„Ah, dann sind sie unsere Nachbarn. Führen Sie bitte die beiden Damen herein. Wenn sie möchten, dann können sie uns beim Frühstück Gesellschaft leisten“, ordnete der Herr des Hauses an.


Die gesamte Familie erhob sich zur Begrüßung von ihren Stühlen und die Baronin von Semur und ihre Tochter betraten den Salon. Bei den Gästen handelte es sich um eine betagte Dame, die versuchte, ihr hohes Alter mit Make-up und einer bordeauxroten Perücke zu verstecken. Dazu trug sie ein schwarzes Spitzenkleid. Die Frau neben ihr war ihre Tochter und Melanie schätzte sie auf vierzig Jahre. Sie war recht mollig und trug ein eher unvorteilhaft sitzendes Kleid, das ihren runden Bauch betonte.

„Madame von Semur, es ist mir eine Freude, Sie kennenzulernen“, begrüßte Thomas von Bouget die beiden Neuankömmlinge. „Darf ich Ihnen als Erstes meine Frau Johanna von Bouget vorstellen und unsere Kinder: Jane, die älteste Tochter, dann Veronika, unser zweites Kind, Melanie, die jüngste Tochter, und unseren Sohn Jakob, den Jüngsten im Quartett.“

„Die Freude ist ganz meinerseits, Monsieur von Bouget“, entgegnete die alte Dame mit einer rauchigen Stimme. „Mich begleitet meine Tochter Monika von Semur.“

„Bitte, setzen Sie sich doch und speisen Sie mit uns. Wir wollten soeben anfangen“, bat Johanna von Bouget und bedeutete Melanie und Jakob mit einer Handbewegung, den beiden Damen ihre Sitzplätze zu überlassen. Die zwei Geschwister standen auf und nahmen stattdessen am anderen Ende des Tisches Platz.

„Ihrer Einladung kommen wir nur zu gerne nach“, antwortete Monika von Semur mit einem breiten Lächeln. Sie und ihre Mutter setzten sich an den Tisch und ein Diener schenkte ihnen Tee ein.

„Als ich gehört habe, dass Sie und Ihre Familie endlich hier eingetroffen sind, musste ich Sie sofort kennenlernen, noch bevor es jemand anderes tut, Monsieur von Bouget. Deswegen entschuldigen Sie bitte unseren Überfall am frühen Morgen“, erläuterte Madame von Semur.

„Ganz im Gegenteil: Ich bin sehr erfreut darüber, so schnell neue Bekanntschaften zu schließen“, schmeichelte Johanna der alten Dame und kam damit der Antwort ihres Mannes zuvor.

„Sie müssen wissen, Madame von Bouget, dass dieses Anwesen früher meiner besten Freundin Madame Letizia von Périgord gehörte, bis sie letzten Winter verstarb. Ich bin sehr glücklich darüber, dass dieses prächtige Haus nicht lange ohne eine neue Herrschaft stehen musste, und Sie nun bereits im Frühjahr hierhergezogen sind. Und ich muss gestehen, dass ich ganz entzückt darüber bin, dass so reizende, junge Damen das Anwesen bewohnen und natürlich ein so hübscher junger Mann. Werden Sie Ihre Kinder zu Beginn dieses Sommers in die Gesellschaft einführen?“, erkundigte sich Madame von Semur neugierig.

„Jane und Veronika haben bereits in einer Woche ihren Debütantinnenball, wir sind deswegen schon ganz aufgeregt. Melanie und Jakob werden in zwei Jahren folgen“, erklärte die Mutter.

„Oh, wie schön, der Debütantinnenball!“ Monika von Semur war ganz aus dem Häuschen. „Ich erinnere mich an mein Debüt, als wäre es erst gestern gewesen: der große Ballsaal im Frühlingspalast, die herausgeputzten jungen Damen und vor allem die hübschen Kavaliere. Ich habe den ganzen Abend und die ganze Nacht getanzt, die Füße taten mir am nächsten Morgen immer noch weh, aber es hat sich gelohnt. Gleich die Tage darauf kamen die jungen, strahlenden Burschen zu uns nach Hause, um mir den Hof zu machen“, prahlte Monika lachend.

Melanie fiel sofort auf, dass Madame von Semur weiterhin ihren Mädchennamen trug und damit unverheiratet war. Sie gewann daraus die Erkenntnis, dass Monikas Suche nach einem Ehemann erfolglos verlaufen war. Sie entschied sich jedoch, diesbezüglich nichts zu sagen, und hörte lieber weiter zu.

„Wenn Sie schöne Kleider für Ihre Töchter schneidern lassen möchten, dann empfehle ich Ihnen den Kleiderladen Sior. Stefano Aranie ist ein begnadeter Designer und Schneider. Keiner fertigt glamourösere Kleider an als er“, beteuerte Monika von Semur, woraufhin ihre Mutter zustimmend nickte.

„Ich danke für die Empfehlung. Wir werden uns den Kleiderladen Sior auf jeden Fall anschauen“, versicherte Madame von Bouget. Sie zweifelte aber daran, dass es den Kleidergeschmack ihrer Töchter treffen würde – dafür waren sie zu wählerisch.

„Und wenn Jane und Veronika Tipps bezüglich der wohlhabenden Kavaliere benötigen, dann brauchen sie mich nur zu fragen. Und ich verrate ihnen alles, was ich über die Männer weiß“, sagte die Baronin von Semur mit einem Augenzwinkern.

„Das ist überaus freundlich, Madame. Meine Schwester und ich werden sicherlich in Zukunft auf Ihr Angebot zurückkommen“, bedankte sich Jane und meinte es auch so.

„Sie müssen wissen, dass der gute Ruf einer jungen Frau in den feinen Kreisen ganz besonders wichtig ist. Natürlich, damit sie in der Gesellschaft anerkannt und respektiert wird, aber vor allem, um als ehrbare Frau zu gelten“, erklärte Madame von Semur dem Baron von Bouget und seiner Ehefrau. „Daher ist es von höchster Dringlichkeit, dass Sie bei Ihren Töchtern einen ausgezeichneten Ruf aufbauen und diesen auch halten. Dann ist ihnen eine gute Partie für die Heirat gewiss.“

„Wir werden Ihren Rat beherzigen, Madame von Semur“, sagte Melanies Mutter dankend und lächelte.


Beim Frühstück unterhielten sich die Erwachsenen über die Herkunft der Familie von Bouget und wie sie es geschafft hatte, vom Kaiser persönlich in den Adelsstand erhoben zu werden. Der Vater berichtete von seinen Verdiensten in der Armee. Er hatte den hohen Rang eines Oberstleutnants erreicht. In seiner militärischen Karriere hatte er ein ganzes Kavallerie-Bataillon befehligt. Es waren alles Geschichten, die Melanie auswendig kannte. Sie beteiligte sich nicht an der Unterhaltung wie ihre Geschwister, sondern hörte nur aufmerksam zu. Sie hatte das Gefühl, dass Madame von Semur und ihre Tochter Monika offen und ehrlich mit ihrer Familie umgingen, und ihren Vater für seine Erfolge bewunderten. Melanie fragte sich, ob alle Menschen des adligen Stands so herzlich waren oder ob ihre Nachbarn eine Ausnahme bildeten.


„Wie die Zeit rennt. Wir müssen langsam wieder aufbrechen. Ich möchte mich für Ihren überaus freundlichen Empfang bedanken, Monsieur von Bouget. Ich würde mich sehr gerne mit einem Mittagessen auf meinem Anwesen dafür revanchieren. Sie und Ihre Familie sind herzlich eingeladen“, sagte Madame von Semur und erhob sich von ihrem Platz.

„Sehr gerne. An welchen Tag hatten Sie dabei gedacht?“, fragte Melanies Mutter und ließ ihren Mann wieder mal nicht zu Wort kommen.

„Wie passt es Ihnen am kommenden Montag? Dann können Sie und Ihre ältesten Töchter von Ihrem ersten Ball berichten“, fragte Madame von Semur.

„Montag passt uns ganz hervorragend. Wir werden gerne kommen“, entgegnete Johanna.

„Großartig! Dann kann Jakob mit meinem Sohn Sebastian Bekanntschaft machen. Sebastian ist fünfzehn Jahre alt und damit nur ein Jahr jünger als Jakob. Sie werden sich sicherlich gut verstehen!“, fügte Monika voller Vorfreude hinzu.

„Bestimmt“, schloss sich Jakob ihrer Meinung an.


Nachdem die Gäste gegangen waren, verstreuten sich die Familienmitglieder in dem großen Anwesen, um ihren Tätigkeiten nachzugehen. Die Baronin und ihre beiden ältesten Töchter zogen ihre vornehmsten Kleider an und fuhren für einen Einkaufsbummel in die Hauptstadt, um neue Outfits für den Ball zu besorgen. Der Baron hingegen unternahm einen Reitausflug, um einen Überblick über seine Ländereien zu bekommen. Die beiden jüngsten Geschwister entschieden sich, ihren Vater zu begleiten. Zum Reiten hatte sich Melanie extra Kleidung für Männer und einen normalen Pferdesattel gekauft. Den Damensattel hatte sie im Alter von zehn Jahren in eine Ecke verbannt. Es war eine Wohltat für ihre Seele, wieder auf Neros Rücken zu sitzen und die Ländereien zu erkunden. Melanie liebte es, die frische Luft einzuatmen. Das Gefühl, wie der Wind ihre Haut streichelte und mit ihren langen Locken spielte. Den weiten Himmel zu betrachten und keine Grenzen zu kennen. Nach einer Weile kamen die drei Reiter an einem ovalen See an. Das Wasser darin war tiefblau. Es führte ein breiter Weg drum herum und Melanie hatte sofort eine brennende Idee.

„Lass uns um die Wette reiten, Jakob. Wer als Erster den See umrundet, hat gewonnen“, schlug sie ihrem Bruder vor.

„Was bekommt der Sieger?“, wollte Jakob zuerst wissen.

„Den Nachtisch des jeweils anderen für einen Monat“, schlug seine Schwester vor.

„Einverstanden!“, sagte Jakob lachend.

Er und Melanie gingen nebeneinander in Position und warteten gespannt auf das Handzeichen ihres Vaters für den Start. Thomas von Bouget betrachtete seine beiden jüngsten Kinder und lächelte. Er hatte sie gleichermaßen erzogen und ihnen das Reiten und Fechten beigebracht. Langsam wurden sie erwachsen und so kämpferisch. Er ließ seinen rechten Arm ruckartig sinken und rief: „Los!“

Die beiden Kontrahenten gaben ihren Pferden die Sporen und sausten davon. Gleich zu Beginn hatte Melanie einen kleinen Vorsprung, den sie in jeder Kurve ausweitete, indem sie versuchte, stets auf der Innenseite des Weges zu reiten und das Gewicht Richtung See zu verlagern. Zu ihrem Erfolgsgeheimnis gehörte aber zweifellos Nero. Der schwarze Hengst war sieben Jahre alt und in seiner Stärke voll aufgeblüht. Melanie war häufig mit ihm im schnellen Galopp geritten, deswegen teilte der englische Vollbluthengst seine Kraft genau auf, um es bis zum Ziel zu schaffen. Zudem bereitete es Nero Freude, seine Energie loszuwerden, und er wollte gewinnen. Nach der letzten Kurve gaben die zwei Gegner Vollgas. Beide Pferde schnauften, ihre Muskeln waren bis zum Äußersten gespannt, aber keiner der Reiter gab auf. Zum Schluss passierte Melanie die Stelle, an der ihr Vater auf sie wartete, mit großem Abstand als Erste und war damit die Siegerin.

„War das eigentlich fair? Du und Nero, ihr seid ein eingespieltes Team. Mein Pferd kenne ich erst seit heute“, beklagte sich Jakob über seine Niederlage.

„Begehre niemals den Nachtisch deines Nächsten. Merke dir diesen Satz für den kommenden Monat!“, neckte Melanie ihren jüngeren Bruder.

Die zwei lachten daraufhin laut und ritten langsam zu ihrem Vater zurück. Sie nahmen keine Notiz davon, dass sie beobachtet wurden.

Ein gutaussehender Mann auf einem Pferd stand weiter abseits auf einem Hügel unter einer großen Eiche und hatte sich das Schauspiel in Ruhe angeschaut. Es handelte sich um einen weiteren Nachbarn, dessen Landstück südlich an das Land der Familie von Bouget angrenzte. Er war ein Herzog und von der Vorstellung der rothaarigen Schönheit angetan, die soeben das Rennen für sich entschieden hatte. Die junge Frau hatte zweifelsohne sein Interesse geweckt und er nahm sich vor, sie in naher Zukunft persönlich kennenzulernen.

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