7. Mai 1875
Der große Tag für Jane und Veronika war endlich gekommen. Heute würden sie zum ersten Mal die Hauptstadtbühne der feinen Gesellschaft betreten. Die Empfehlung der Madame von Semur bezüglich des Kleiderladens Sior hatte sich entgegen erster Erwartungen als ein Volltreffer erwiesen, denn die drei Damen kamen mit einer Unmenge an Einkaufstüten nach Hause, die von den Dienern hineingetragen wurde. Melanie bestaunte die vielen Tüten und bat ihre Schwestern, ihre Beute zu präsentieren. Jane und Veronika kamen dieser Aufforderung nur zu gerne nach. Im großen, gemeinschaftlichen Salon breiteten sie ihre Kleider aus, reihten die Schuhe nebeneinander auf und legten den Schmuck vorsichtig auf die lange Fensterbank. Die großgewachsene, blonde Jane hatte sich für ein bodenlanges, silberglitzerndes Kleid in A-Linie entschieden, mit breiten Trägern und einem großzügigen V-Ausschnitt. Damit kam ihr wohlgeformter Busen gut zur Geltung. Dazu hatte sie schlichte silberne Schuhe mit hohem Absatz ausgewählt. Jane hatte vor, keinen Halsschmuck zu diesem Outfit zu tragen, aber dafür große Diamantohrringe und ein kleines Diadem. Die langen, glatten Haare würde sie bis zur Taille offen fallen lassen und nur vorne hochstecken. Wahrhaftig, Jane würde am Ende einem Stern gleichen! Veronikas Wahl war auf ein cremeweißes Kleid gefallen, das ebenfalls in A-Linie geschnitten war und bis zum Boden reichte. Es hatte einen U-Boot-Ausschnitt, aber keine Ärmel. Die hohen, cremeweißen Schuhe hatten vorne kleine Schleifchen. Veronika vollendete ihr Outfit mit ausgefallenem Haarschmuck aus echten weißen Rosen, die in ihre Frisur eingeflochten werden sollten; ansonsten würde sie keinen weiteren Schmuck an diesem Abend tragen. Denn allein Veronikas kleiner, brauner Leberfleck auf ihrer rechten Wange direkt unter dem Auge war Verzierung genug und verlieh ihr eine verführerische Ausstrahlung.
„Was habe ich für ein Glück, so hinreißende Schwestern zu haben“, stellte Melanie fest. „Ihr werdet euch mit Sicherheit kaum vor Verehrern retten können.“
„Amen, Schwester!“, kommentierte Jane.
„Hoffentlich werden wir auch wirklich die Aufmerksamkeit der feinen Herren erregen. Denn ich habe das ungute Gefühl, dass der Heiratsmarkt hart umkämpft sein wird“, äußerte Veronika ihre Bedenken.
„Wie kommst du darauf?“, fragte Melanie verwundert.
„Nun, als wir vorhin mit Mutter einkaufen waren, habe ich andere junge Frauen gesehen, die sich für den Ball ausstatteten. Und ich muss gestehen, dass sie allesamt ausgesprochen hübsch und vor allem manierlich waren. Es ist offensichtlich, dass sie seit ihrer Geburt auf die Rolle einer edlen Dame vorbereitet wurden und sich sehr erhaben benehmen. Es wird schwer sein, aus dieser Menge herauszustechen“, erläuterte Veronika ihre Beobachtung.
„Da gebe ich dir Recht. Wir müssen klug und geschickt vorgehen, wenn wir eine gute Partie machen wollen“, ergänzte Jane Veronikas Überlegungen.
„Und wie wollt ihr das anstellen?“, hakte Melanie interessiert nach.
„Genau das ist noch unklar“, gab Jane offen zu. „Ich verschaffe mir zuerst einen Überblick und überlege dann, wie wir am besten vorgehen. Geschickte Taktik ist gefragt. Und wir dürfen uns keine Fehler erlauben wie skandalöses Verhalten, das würde sonst unseren Ruf ruinieren.“
„Keine Sorge, Jane. Ich bleibe zu Hause eingesperrt und werde nicht die Möglichkeit haben, dich oder Veronika in Verlegenheit zu bringen“, beruhigte Melanie sie und legte sich dabei lässig aufs Sofa.
Jane warf ihr einen seitlichen Blick zu und lächelte wissend. Ja, sie kannte das lebhafte Temperament ihrer jüngsten Schwester und genau diese Tatsache bereitete ihr am meisten Kummer. Melanie war zwar schlau und belesen, aber auch wild und zügellos. Würde man sie jetzt mit ihren siebzehn Jahren auf die feine Gesellschaft loslassen, dann würde sie aller Wahrscheinlichkeit nach jeden Ball sprengen. Nein, es war definitiv besser, dass Melanie erst mit zwanzig Jahren ihr Debüt feierte in der Hoffnung, dass sie bis dahin an Reife gewonnen haben würde.
Am frühen Abend kleideten sich Jane, Veronika, ihre Mutter und ihr Vater für den Ball. Alle vier waren äußerst nervös. Sie liefen aufgeregt durch die Gegend und jeder von ihnen hatte die Befürchtung, irgendetwas zu vergessen, sei es die Handtasche oder die Taschenuhr. Nach einer Stunde Vorbereitung war es endlich so weit und sie versammelten sich abfahrbereit im Foyer. Die Baronin von Bouget überprüfte die Kleider ihrer Töchter und begutachtete deren Frisuren. Dann widmete sie sich ihrem Gatten und strich ihm ein paar Falten an den Ärmeln glatt. Sobald alles zu Johannas vollster Zufriedenheit war, erteilte sie ihm und ihren ältesten Töchtern das Kommando, nach draußen zu gehen. Jakob half Jane und Veronika galant, in die Kutsche einzusteigen, und wünschte den beiden viel Glück. Er und Melanie blieben lange draußen an der frischen Abendluft am Haupteingang stehen, während die Kutsche langsam davonfuhr. Auf einmal ergriff Jakob Melanies Hand und raunte ihr zu: „Komm mit, ich habe etwas für dich.“
Sie sah ihren Bruder verwundert an. Er war schon immer für einen Spaß zu haben. Vermutlich hatte er sich wieder mal etwas Lustiges überlegt. Jakob führte seine Schwester kichernd auf sein Zimmer und schloss schnell die Tür hinter sich zu.
„Na los, erzähl schon, du Geheimniskrämer. Was hast du für mich?“, forderte Melanie ihren Bruder auf, endlich konkreter zu werden.
„Vater und ich waren vorgestern in der Hauptstadt, um ein paar Dinge zu erledigen und um neue Festkleidung zu kaufen. Dabei ist mir dieser Flyer in die Hände gefallen“, berichtete Jakob und holte einen sorgfältig gefalteten Zettel hervor. Melanie nahm das Papierstück entgegen und faltete es auseinander. Sie las den Inhalt durch und ihre Augen wurden immer größer. Es handelte sich um ein Informationsblatt zum kaiserlichen Pferderennen, das in zwei Tagen stattfinden sollte. Für Melanie stand fest, dass sie auf jeden Fall hingehen würde. Jakob flitzte zu seinem Kleiderschrank, holte eine längliche Kiste hervor und legte sie auf sein Bett.
„Was, glaubst du, befindet sich da drin?“, fragte er mit einem verschmitzten Lächeln.
„Ähm, neue Kleidung vielleicht?“, lautete Melanies erster Rateversuch.
„Nicht schlecht. Ich habe mich über dieses Pferderennen ausführlich informiert. Die Teilnehmerzahl ist auf zehn Personen begrenzt und es dürfen sich dort nur Mitglieder des Adels anmelden, aber ansonsten kann jeder mitmachen, der den Mut dazu hat“, erzählte Jakob aufgeregt.
„Lass mich raten: Du hast dich zu diesem Rennen angemeldet“, schlussfolgerte sie grinsend.
„Nicht mich, nein, sondern dich“, antwortete der Bruder zaghaft.
Melanie benötigte einen Moment, um zu begreifen, was ihr da soeben offenbart worden war, und fragte dann aufgebracht: „Wie bitte?! Du hast MICH zu diesem Rennen angemeldet?!“
Jakob hob beschwichtigend seine Hände und fuhr mit seiner Erklärung fort. „Höre mir bitte zu. Du bist die beste Reiterin, die ich kenne. Und bei unserem letzten Wettrennen hast du mich haushoch geschlagen. Du hast jetzt die Chance, dich mit anderen Reitern zu messen.“
„Jakob, wir beide reiten immer nur zum Spaß, dieses Rennen ist aber Ernst. Da machen sicherlich keine blutigen Anfänger mit, sondern Profis!“, sagte Melanie aufgebracht.
„Ganz genau. Erfahrene Reiter treten gegeneinander an. Willst du dich nicht verbessern, Schwester? Das schaffst du nur, wenn du die Herausforderungen steigerst. Papa und ich, wir sind für dich keine Gegner mehr, du galoppierst uns davon wie der Wind. Aber hier bietet sich dir eine Gelegenheit an zu erfahren, ob du das Zeug zum Champion hast“, erklärte Jakob.
Sie schaute ihren Bruder lange und intensiv an und fragte dann: „Tust du das nur, weil du bei unserem letzten Rennen verloren hast und mir damit eins auswischen möchtest?“
Jakob schüttelte daraufhin heftig den Kopf und versicherte Melanie: „Nein, ganz im Gegenteil. Ich bin mir sicher, dass du das Rennen gewinnen kannst. Deswegen habe ich dich auf die Teilnehmerliste setzen lassen. Du kannst dich natürlich weigern und deine Teilnahme wieder zurücknehmen.“
Wieder zurücknehmen? Nein, das war völlig unmöglich, denn Melanie war schon längst Feuer und Flamme für dieses Rennen. Sie würde antreten. Das einzige und größte Problem, das blieb, war: Wie konnte sie auf die Rennbahn gelangen, ohne dass ihre Eltern oder ihre Schwestern davon erfuhren?
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