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Kapitel 4 - Die Ernüchterung

  • blitz-und-donner-r
  • 23. Nov. 2024
  • 3 Min. Lesezeit

8. Mai 1875


Schweigend saß die Familie von Bouget am Frühstückstisch, während man das Geschirr klappern hörte. Es roch nach frisch gebackenen Brötchen und Pfefferminztee. Mutter seufzte zwischendurch leise. Zum zehnten Mal schmierte sie ihr Brot mit Butter. Sie war mit ihren Gedanken ganz woanders. Vater las seine Zeitung und sprach nicht über die Nachrichten, wie üblich. Jane kaute seit einer halben Stunde auf einem Stück Gurke herum und aß praktisch gar nichts. Und Veronika verschlang ihr drittes Brötchen mit Marmelade, als wäre sie am Verhungern. Melanie und Jakob sahen sich verwundert an. Offenbar war der gestrige Abend alles andere als gut verlaufen, denn bis jetzt hatte keiner von ihnen ein Wort darüber verloren. Nicht unbedingt die besten Voraussetzungen, um die verstimmte Menge für ein Pferderennen zu begeistern. Nach kurzem Zögern fasste Melanie den Mut, eine Frage in den Raum zu werfen. „Jane, welchen Überblick konntest du dir gestern verschaffen?“

„Einen überaus ernüchternden“, antwortete die älteste Schwester sachlich und kurz. Sie schaute deprimiert in die Leere und hörte mit dem Essen auf.

„Das heißt was genau?“, fragte Melanie nach.

„Der große Ballsaal im Frühlingspalast ist überaus prächtig und vor allem riesig. Es waren mehr als tausend Menschen anwesend“, berichtete Jane und fuhr fort. „Praktisch jede junge Dame war elegant gekleidet und perfekt gestylt. Die Hälfte der Gäste war Männer, aber um deren Aufmerksamkeit zu erregen, waren eine hervorragende Abstammung aus einflussreicher Familie und eine ausgesprochene Attraktivität vonnöten. Ansonsten wurde man gar nicht beachtet, geschweige denn zum Tanzen aufgefordert.“

„Ja, und wir sind die Neuen, die gar nichts davon vorweisen. Unsere Familie ist weder einflussreich noch schön. Wir sind für sie Abschaum“, sagte Veronika resigniert und legte geräuschvoll ihr Frühstücksmesser auf dem Teller ab.

„Veronika, bitte. Sei nicht so hart zu dir selbst“, bat der Vater seine Tochter und schaute dabei nicht von seiner Zeitung hoch.

„Es stimmt doch, Papa. Kein einziger Kavalier hat mit uns gesprochen, obwohl wir doch nicht hässlich sind. Oder? Kein Einziger!“, stellte Veronika klar und hatte fast Tränen in den Augen.

Bedrückendes Schweigen erfüllte den Salon. Melanie hatte großes Mitgefühl mit ihren Schwestern. Beide hatten sich so auf diesen Abend gefreut und sich mühsam darauf vorbereitet. Alles vergebens.

„Die reichen Burschen waren wohl sehr wählerisch – oder blind“, dachte sich Melanie.

Dieses Mal war es Jakob, der die Stille auflöste. „Wie wäre es mit einer anderen Veranstaltung? Morgen ist das kaiserliche Pferderennen. Wir könnten es alle gemeinsam besuchen.“

„Wozu? Da wird keiner mit uns reden“, lehnte Veronika den Vorschlag genervt ab.

„Na ja, schlimmer als gestern wird es sicherlich nicht werden“, lautete Jakobs schlagfertige Antwort, woraufhin Veronika endgültig die Beherrschung verlor und anfing zu weinen. Melanie verdrehte die Augen. Die Konversation verlief komplett in die falsche Richtung.

„Ist schon gut, Jakob. Ich denke, wir brauchen erst mal eine Erholungspause von dem misslungenen Debütantinnenball. Wir bleiben besser zu Hause“, sagte Mutter leise und wirkte niedergeschlagen.

„Nein, wir gehen hin“, mischte sich der Vater in die Unterhaltung ein.

„Wie bitte? Thomas, was sollen wir bei einer Sportveranstaltung?“, fragte seine Ehefrau irritiert.

„Jakob hat recht. Wir brauchen einen Strategiewechsel. Wir gehen zu diesem Pferderennen und das ist mein letztes Wort“, sagte Monsieur von Bouget, stand auf und marschierte aus dem Salon.

Alle Anwesenden sahen ihm hinterher, sogar Veronika hörte mit dem Weinen auf. Jakob und Melanie schauten sich grinsend an und waren zufrieden. Jane und ihre Mutter hingegen widmeten sich kopfschüttelnd wieder ihrem Frühstück.

„Pferde“, sagte Veronika abwertend. „Vermutlich interessiert sich jeder feine Herr für sie, aber keiner für Jane und mich! Und wahrscheinlich wird bei diesem Rennen die Crème de la Crème des Hochadels dabei sein und diese Biester bejubeln.“

„Keine Sorge, dieses Mal werde ich dabei sein und nur dich bejubeln“, sagte Jakob scherzhaft, woraufhin Veronika ihm einen finsteren Blick zuwarf, aber auch leicht lächelte.

 
 
 

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