9. Mai 1875
Thomas von Bouget klopfte vorsichtig an Melanies Tür, bevor er eintrat. Seine jüngste Tochter war heute Morgen nicht zum Frühstück erschienen mit der Begründung, sie sei krank, weshalb er zu ihr aufs Zimmer kam, um nach ihrem Befinden zu schauen. Die Vorhänge waren zu und Melanie lag in ihren Schlafsachen im Bett. Thomas näherte sich langsam dem Fenster und öffnete es. Man hörte sofort den fröhlichen Vogelgesang und die strahlende Sonne schien zwischen den Vorhängen durch einen Spalt hindurch. Eine frische Brise wehte herein und kündigte ein ausgezeichnetes Wetter für diesen Sonntag an.
„Wie fühlst du dich, mein Engel?“, fragte der Vater liebevoll und legte seine Hand auf Melanies Stirn, um zu sehen, ob sie Fieber hatte.
„Schlapp, Papa. Ich habe gestern Abend etwas Verkehrtes gegessen, mein Magen rumort die ganze Zeit und ich laufe ständig ins Badezimmer“, erzählte Melanie mit leiser Stimme.
„Dann ist es besser, wenn du dich heute im Bett erholst. Soll ich lieber bei dir bleiben oder einen Arzt rufen?“, fragte der Baron besorgt.
„Nein, nein. Geh nur mit den anderen zum Pferderennen. Du kannst Jakob mit den Frauen nicht allein lassen“, antwortete Melanie und lächelte gequält.
Ihr Vater überlegte eine kurze Weile und sagte: „In Ordnung. Schade, dass du nicht mitkommen kannst. Aus unserer Familie hättest du dich am meisten über das Rennen gefreut.“
„Es ist nicht so schlimm. Nächstes Jahr bin ich auf jeden Fall dabei“, beschwichtigte Melanie.
Wenig später erschien Jakob in der Tür. Er hatte seine dunkelblonden und welligen Haare nach hinten gekämmt und trug ein weißes Hemd mit einer dunkelgrauen Weste mit Nadelstreifen und die dazu passenden Stoffhosen. Er lehnte sich lässig an den Türrahmen und meinte: „Papa, wir wollen los, die Kutsche steht bereit und die anderen warten.“
Monsieur von Bouget gab seiner Tochter einen Kuss auf die Stirn, bevor er sich erhob und das Zimmer verließ.
„Bis später, Schwesterherz“, verabschiedete sich Jakob und zwinkerte ihr zu.
Melanie winkte ihm wortlos zurück. Sie vernahm unten im Foyer die Stimmen ihrer Eltern und Geschwister. Veronika jammerte herum, dass es reinste Zeitverschwendung sei, zu diesem Pferderennen zu fahren. Jane klang ebenfalls nicht sonderlich erfreut, aber sie besaß wenigstens mehr Geduld und Würde. Wenig später war es im Haus wieder leise und Melanie hörte, wie draußen die Kutsche über den Kiesweg wegfuhr. Sie blieb noch einen kurzen Augenblick liegen, sprang dann wie von der Tarantel gestochen aus dem Bett und lief in das Zimmer ihres Bruders nach nebenan. Sie marschierte direkt zum Kleiderschrank und holte schnell die längliche Kiste heraus, die Jakob ihr vor zwei Tagen gezeigt hatte. Melanie verharrte, als sie Stimmen hinter der Tür hörte. Ein paar Dienstmädchen unterhielten sich und schlenderten in die Küche. Sie atmete tief durch. Noch mal gut gegangen, sie war unentdeckt geblieben. Sie öffnete langsam die Kiste und erblickte nagelneue, professionelle Reitkleidung für Männer in ihrer Größe, inklusive Reithelm, Stiefeln und einer kurzen Peitsche. Jakob hatte beim Kauf definitiv an alles gedacht. Melanie überlegte nicht lange. Mit einem Schwung zog sie ihr Nachthemd aus und die Kleidung an. Nachdem sie in die Stiefel geschlüpft war, stellte sie sich vor den mannshohen Spiegel, der in der Ecke des Zimmers stand, und betrachtete sich darin. Melanie bemerkte, dass, obwohl sie Männerkleidung trug, ihre weibliche Figur sie sofort verriet. Dafür war die Reitkleidung zu eng anliegend. Aber das kümmerte sie wenig, denn sie hatte nicht die Absicht, sich als Mann auszugeben, sondern es ging allein darum, die richtige Ausrüstung zu tragen, wenn sie sich dem Wettkampf stellte. Trotzdem hatte sie Bedenken. Denn nie zuvor hatte es eine Frau gewagt, am kaiserlichen Rennen teilzunehmen. Es war stets eine Männerdomäne geblieben. Bis jetzt.
Melanie band ihre Haare zusammen und steckte sie hoch unter den Reithelm, damit ihre Sicht während des Rennens durch nichts gestört wurde. Dann holte sie eine Jacke aus Jakobs Kleiderschrank, zog sie über und betrachtete sich im Spiegel. Ja, so könnte es klappen. Melanies Kurven wurden nun durch das zu große Kleidungsstück kaschiert. Sie nahm die kurze Peitsche, stellte sich breitbeinig hin und stemmte die Hände in die Hüfte. Mit ausgestreckter Brust und erhobenen Hauptes stand sie einige Minuten da und sagte dann zu sich selbst: „Das ist meine Chance zu erfahren, ob ich zu den besten Reitern gehöre. Ich nutze sie und ich werde gewinnen.“
Mit diesen Worten schlich sie zur Tür, öffnete sie vorsichtig und spähte hinaus. Keiner war da und nichts war zu hören. Melanie nahm all ihren Mut zusammen und spurtete den Flur entlang, dann die Haupttreppe hinunter und raus durch den Haupteingang in Richtung der Stallungen. Es grenzte fast an ein Wunder, dass sie in diesem Moment keinem Diener oder Hausmädchen begegnete. Vermutlich hatten sie sich jetzt alle in der großen Küche versammelt, um etwas Ruhe zu genießen, solange die Herrschaften aus dem Haus waren. Melanie erreichte den Pferdestall und eilte zu Neros Box. Ihr tiefschwarzer Hengst hatte ein schimmerndes Fell und jeder seiner Muskeln zeichnete sich unter der Haut ab.
„Hallo, mein Freund. Ich bin ziemlich aufgeregt. Denn heute ist unser großer Tag. Wir werden gemeinsam ein Rennen bestreiten“, redete Melanie mit sanfter Stimme und streichelte dabei Neros Hals. Er schien sie verstanden zu haben und nickte leicht mit seinem Kopf. Sie holte den Pferdesattel und schnallte ihn auf seinen Rücken, überprüfte dann die optimale Länge der Steigbügel, legte das Zaumzeug an und putzte seine Hufe, damit ihn keine Steine beim Rennen störten. Nach einer halben Stunde war sie fertig und die Zeit drängte. Bald würde der Startschuss ertönen. Sie führte Nero aus dem Stall und schwang sich auf seinen Rücken. Melanie und Jakob waren am Tag zuvor den Weg dorthin zusammen geritten, um zu erkunden, wo die Veranstaltung stattfand. Deshalb kannte sie die Strecke und hatte keine Bedenken, rechtzeitig anzukommen.
Als sie am Ort des Geschehens eintraf, war Melanie von der schieren Masse an Besuchern überwältigt. Es waren mit Sicherheit achtzigtausend, vermutlich sogar über hunderttausend Menschen aus allen Gesellschaftsschichten vertreten. Die Leute waren ausnahmslos vornehm gekleidet und feierten feuchtfröhlich mit reichlich Alkohol. Es herrschte eine ausgelassene Stimmung wie auf einem Volksfest, nur sehr viel luxuriöser. Der köstliche Duft von heißen Waffeln lag in der Luft und weckte bei Melanie den Appetit. Alle paar hundert Meter spielte eine Band lebhafte Musik. Die Menschen lachten, sangen, lagen sich in den Armen und schunkelten. Melanie hatte bis zu diesem Zeitpunkt gar nicht vermutet, dass das kaiserliche Pferderennen in Wahrheit eine exklusive Partnerbörse war.
Die Damen, egal ob jung oder alt, hatten an diesem sonnigen Tag ihre extravagantesten Cocktailkleider angezogen und trugen die ausgefallensten Kopfbedeckungen. Manche Hüte und Fascinators wirkten schon fast bizarr. Eine junge Frau, die sich ganz in schwarz gekleidet hatte, trug einen Hut, der wie eine Krähe aussah. Melanie hoffte inständig, dass es sich nicht um einen echten toten Vogel handelte. Die Frauen benahmen sich unfassbar freizügig und kokettierten mit den anderen Herren in feinen Anzügen und Fracks, als gäbe es kein Morgen. Manche Singles hatten heute Glück und schlossen vielversprechende Bekanntschaften. Andere wiederum suchten nur ein aufregendes Abenteuer für die Nacht. Und nur in seltensten Fällen entwickelte sich aus der unverbindlichen Liebelei eine ernste Beziehung. Aber das hinderte die Feiernden nicht daran, ihren Spaß zu haben. Melanie war in dem Moment froh, auf einem Pferd zu sitzen und die Lage etwas überblicken zu können. Sie entdeckte das Zelt für die Rennteilnehmer und begab sich dorthin. Ein dicker Herr in einem dunkelgrauen Frack mit Zylinder stand vor dem Eingang und gab ihr durch ein Handzeichen zu verstehen, hier anzuhalten.
„Seid Ihr einer der Teilnehmer?“, fragte der fremde Mann mit lauter Stimme.
„Jawohl, Monsieur!“, verkündete Melanie und versuchte, dabei tiefer zu klingen. Sie konnte es selbst kaum glauben, bei diesem Zirkus eine der Hauptrollen zu spielen.
„Ich bin der Zeremonienmeister. Unter welchem Familiennamen finde ich Euch auf der Teilnehmerliste?“, erkundigte er sich bei ihr und schaute dabei auf den langen Zettel in seiner rechten Hand.
„Von Bouget!“, antwortete Melanie stolz.
„Ah ja, da habe ich Euch, Monsieur von Bouget. Ihr startet vom Platz mit der Nummer fünf. Ich wünsche Euch viel Erfolg!“, sagte der Mann beiläufig und setzte hinter Melanies Namen ein Häkchen. Ihr fiel sofort auf, dass der Zeremonienmeister sie nicht nach ihrem Vornamen gefragt hatte. Offensichtlich hatte Jakob bei der Anmeldung diesen mit Absicht weggelassen.
„Jakob, du Teufelskerl“, dachte Melanie. Das war ein geschickter Schachzug. Denn auf diese Weise hatte keiner ihre Teilnahme im Vorfeld verhindert. Sie war kurz davor, beim kaiserlichen Pferderennen als erste Frau in der Geschichte des Reiches anzutreten. Die übrigen Reiter waren allesamt Männer. Melanie wurde langsam nervös. Das Rennen würde um Punkt zwölf Uhr beginnen und es blieb nur noch eine Stunde. Am Rande des Zeltes hatten die Zuschauer die Möglichkeit, die Pferde und ihre Reiter zu begutachten, bevor sie ihre Wetten abgaben. Melanie betete inständig, dass sie keiner der Anwesenden vorher erkannte. Im nächsten Moment fiel ihr ein, dass sie recht neu in der Stadt war und sich somit unnötig Gedanken darüber machte. Nach einer halben Stunde trat der Zeremonienmeister an die Reiter heran und bat alle Kontrahenten, sich an die Startlinie zu begeben. Melanie führte Nero neben sich an den Zügeln. Sie nutzte die Gelegenheit, um sich umzuschauen. Die Länge der Rennbahn betrug insgesamt 2.900 Meter und sie war somit eine der längsten Rennstrecken im ganzen Land. Melanie hatte die halbe Nacht darüber gegrübelt, welche Taktik sie am Ende wählen sollte, um diese Strecke zu bewältigen. Zudem waren da ihre Konkurrenten. Auch sie hatten einen Plan, um zu gewinnen, und Melanies Aufgabe war es, sie zu durchschauen. Sie warf einen Blick in Richtung der Zuschauermenge. Unten auf dem Rasen, direkt vor der Rennbahn, tummelte sich das Fußvolk. Und dahinter, oben auf der großen Tribüne, saßen die Edelleute. Der Kaiser und seine gesamte Familie waren anwesend. Sie waren umringt von den einflussreichsten Menschen des Reiches, darunter Politiker, Richter, Generäle und nicht zu vergessen der Hochadel. Demnach schauten heute viele Augen auf das Rennen und Melanie beschlichen Zweifel. Was würde geschehen, wenn sie sich bis auf die Knochen blamierte? Dann würde sie sich mit einem Schlag vor der ganzen Welt ruinieren. Sie würde damit ihre gesamte Familie entehren und ab sofort in Schande leben müssen. Hatte sie sich das gut überlegt? Oder trieb ihr übermäßiger Ehrgeiz sie ins Verderben? Melanie fragte sich, ob ihre Familie da oben saß und nichts ahnend auf das Rennen wartete. Abgesehen von Jakob, dem sie das Ganze hier zu verdanken hatte.
Urplötzlich wurde Melanie vom lauten Pferdewiehern aus ihren Gedanken gerissen. Einige der teilnehmenden Pferde wurden panisch. Was ging hier vor sich? Das Rennen stand unmittelbar bevor und alle Reiter begaben sich auf ihre Plätze. Doch ein paar Pferde weigerten sich. Ihre Besitzer hatten Mühe, sie im Zaum zu halten. Was machte diese Tiere so nervös? Mit einem Mal begriff Melanie, dass es ihr erstes öffentliches Pferderennen war. Sie hatte nie zuvor eins gesehen, sondern nur Geschichten darüber gehört. Etwas Wichtiges wurde bei den Erzählungen offenbar nicht erwähnt. Und dieses Etwas bereitete einigen Pferden Angst. Doch was war es? Melanie wusste es nicht, aber sie wollte jetzt keinen Rückzieher machen und musste mutig bleiben. Sie führte Nero zum Startplatz Nummer fünf, setzte anschließend auf ihn auf und schloss für kurze Zeit ihre Augen. Sie schärfte all ihre Sinne. Spürte, wie die Energie ihren Körper durchströmte, ihren Geist elektrisierte und ihren Verstand schärfte. Was auch immer gleich während des Rennens passieren würde, sie stellte sich dem entgegen.
„Alle Teilnehmer sind auf ihren Plätzen“, verkündete der Zeremonienmeister durch sein Megafon. Er hielt die Luftpistole nach oben. Dann schaute er die Reiter zum letzten Mal nacheinander an und guckte auf seine Taschenuhr. Es waren nur wenige Sekunden vor zwölf Uhr. Melanie zog rasch ihre Jacke aus und warf sie nach hinten auf die Erde. Sie war bereit.
„Auf die Plätze!“, rief der Zeremonienmeister.
Melanies Atem wurde schneller.
„Fertig!“
Nero spannte seine gesamten Muskeln an und atmete tiefer.
Peeeng! Der Startschuss ertönte.
Was dann geschah, kam Melanie vor wie ein Gewitter. Alle zehn Pferde setzten sich zeitleich in Bewegung. Die Luft vibrierte. Die Hufe verursachten einen Lärm wie ein tiefes Donnern und wirbelten den Staub vom Boden auf. Und die Welt hielt den Atem an. Nero galoppierte los wie ein Blitz und wurde mühelos Dritter. In der ersten Kurve versuchte Melanie, so weit wie möglich auf die Innenseite der Rennbahn zu gelangen und passte dabei auf, ihrem Vordermann nicht zu nahe zu kommen. Erst nach der zweiten Kurve machte sie auf der langen Geraden wieder Tempo, aber nicht zu viel; Nero musste seine Kräfte bis zum Schluss aufteilen und durfte vor dem Ziel nicht langsamer werden. Trotzdem achtete Melanie darauf, dass der Reiter hinter ihr auch dort blieb. Der Mitstreiter wurde unterdessen immer schneller und war dabei, sie einzuholen, da stolperte plötzlich sein Pferd im vollen Galopp und stürzte zu Boden. Melanie versuchte, sich zu konzentrieren, aber im Augenwinkel hatte sie erkannt, dass der arme Pechvogel noch einige andere Gegner mitgerissen hatte. Sie hoffte, dass keiner der Teilnehmer ernsthaft verletzt war. Aber für solche Gedanken war jetzt nicht die Zeit. Die dritte Kurve kam näher und sie war entscheidend. Denn nun kämpfte sie um den zweiten Platz. Sie kam von hinten auf die Innenseite und verlagerte ihr gesamtes Gewicht Richtung Zentrum. Nero kannte diesen Trick und galoppierte etwas schneller. Somit überholten sie geschickt den zweiten Reiter. Die vierte und letzte Kurve war der Schlüssel zum Erfolg. Melanie wollte so nah wie möglich an den Erstplatzierten herankommen, aber ihn nicht überholen. Er sollte sich in Sicherheit wiegen, damit sie ihn beim Endspurt angreifen konnte. Die beiden Konkurrenten kamen aus der vierten Kurve und galoppierten im vollen Tempo auf die Zielgerade zu. Nun würde sich entscheiden, wer der Schnellste war. Der Gegner schlug unbarmherzig mit der kurzen Peitsche auf sein Pferd ein, damit es beschleunigte. Melanie hingegen rief aus vollem Hals: „Jetzt oder nie! Gewinne, Nero!“
Der Hengst entfaltete seine ganze Kraft und Schnelligkeit. Wie ein Geschoss flog er am Konkurrenten vorbei und wurde unter ohrenbetäubendem Beifall der Zuschauermenge Erster.
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