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Kapitel 6 - Der Champion


9. Mai 1875


Melanie ließ Nero langsamer werden und hielt dann am Rande der Strecke an. Sie und ihr Pferd zitterten am ganzen Leib aufgrund der enormen Anstrengung. Sie blieben eine kurze Weile an Ort und Stelle stehen und kamen zur Ruhe. Melanie schaute in Richtung des Publikums, das völlig am Ausflippen war, und hörte den Zeremonienmeister in sein Megafon rufen: „Und es gewinnt überraschenderweise der Neuling mit der Nummer fünf! Nero!“

Sie hatten das kaiserliche Pferderennen gewonnen! Melanie konnte das Ganze gar nicht fassen. Es kam ihr alles so surreal vor. Sie rührte sich nicht von der Stelle, bis einer der anderen Rennteilnehmer mit seinem Pferd neben ihr anhielt und sie aufforderte: „Was stehst du da rum? Los, ab zum Podest! Der Kaiser überreicht dir gleich den Preis!“

Melanie nahm sich wieder zusammen und ritt langsam zur Tribüne. Die Menschen am Rande der Rennbahn winkten ihr zu und riefen: „Bravo! Erste Klasse!“


Sie entdeckte das Podest und ritt direkt darauf zu. Dort warteten der Zeremonienmeister und ein hochgewachsener Mann auf sie. Er trug eine blaue Uniform und Melanie erkannte sein Gesicht aus der Zeitung wieder. Es war Kaiser Alexander höchstpersönlich. Sie stieg vom Rücken ihres Pferdes ab und umarmte Neros Hals.

„Danke“, flüsterte sie ihm zu und hatte Tränen in den Augen. Sie nahm ihren Reithelm ab und befreite ihre Locken. Melanie hatte nie vorgehabt, diesen Wettbewerb als Mann zu gewinnen. Sie wollte der Welt zeigen, dass sie es war, die das geschafft hatte. Sie schritt auf das Podest zu und die Menge verstummte allmählich. Alle starrten sie ratlos an. Am Ziel angekommen, strahlte Melanie die beiden Männer mit einem breiten Lächeln an und schob ihre Brust stolz vor.

„Sie sind ja eine Frau“, stellte Kaiser Alexander verblüfft fest. Jeder um ihn herum war völlig still.

„Ja, absolut richtig, Eure Kaiserliche Majestät!“, antwortete Melanie selbstsicher.

Es vergingen ein paar quälende Sekunden, in denen keiner ein Wort herausbrachte. Sowohl der Kaiser als auch der Zeremonienmeister sahen Melanie fassungslos an und die Gewinnerin befürchtete fast, man würde sie gleich vom Podest jagen.

„Ha! Das ist ja phänomenal! Wie heißen Sie, Mademoiselle?“, fragte der Kaiser aufgeregt und trat näher an sie heran.

„Mein Name ist Melanie von Bouget, Eure Kaiserliche Majestät“, offenbarte sie selbstbewusst.

Der Monarch nahm dem überrumpelten Zeremonienmeister das Megafon aus der Hand und verkündete in Richtung seiner Untertanen: „Mesdames et Messieurs, dieses Jahr haben wir eine wahre Sensation! Die Siegerin des kaiserlichen Pferderennens ist: Melanie von Bouget!“

Im nächsten Augenblick explodierte das Publikum vor Begeisterung. Laute Pfiffe waren zu hören und die Zuschauer jubelten. Die Menschen schauten voller Erstaunen zu der jungen Frau, die den Wagemut besessen hatte, an dem gefährlichen Rennen teilzunehmen. Sie klatschten unaufhörlich in die Hände und lachten. Melanie wurde von einem Gefühl mitreißender Euphorie erfasst und winkte dem Publikum zu.


„Der ist für Sie, Mademoiselle von Bouget. Sie haben ihn sich redlich verdient!“, lobte der Kaiser und überreichte Melanie den Preis.

Sie ergriff voller Freude den Pokal, stellte sich dann wie eine Heldin auf das Siegertreppchen und präsentierte der Menge die goldene Trophäe, woraufhin der Zuschauerjubel noch lauter wurde. Melanie drehte sich dann selbstsicher um und schritt lässig vom Treppchen wieder hinunter zum Kaiser.

Alexander bestaunte sie von oben bis unten und sagte: „Sie sind wahrhaftig eine Wucht. Ich freue mich sehr, Sie kennengelernt zu haben.“

„Ganz meinerseits, Eure Kaiserliche Majestät!“, entgegnete Melanie.

Im nächsten Moment kam der Zeremonienmeister zurück aufs Podest. Melanie hatte gar nicht mitbekommen, dass er eine Zeit lang verschwunden gewesen war. Und dann erblickte sie die zwei Gestalten, die er im Schlepptau hatte, und das Blut gefror in ihren Adern. Sie starrte ihren Vater an und er schaute mit ernster Miene zu ihr zurück.

„Wie befohlen, Eure Kaiserliche Majestät: Hier sind der Baron von Bouget, der Vater der Siegerin, und sein Sohn Jakob“, erklärte der Zeremonienmeister. Kaiser Alexander drehte sich zu den beiden Herren um und erkannte Melanies Vater wieder.

„Ah, Thomas von Bouget. Natürlich. Wieso wundert es mich nicht, dass ausgerechnet Ihr Nachwuchs den Pferderennsport revolutioniert? Vermutlich, weil Sie zu den Besten gehören, die ich in meiner Armee jemals hatte“, beantwortete der Monarch seine eigene Frage.

„Vielen Dank, Eure Kaiserliche Majestät. Ich fühle mich geschmeichelt“, sagte Monsieur von Bouget mit einer tiefen Verbeugung.


Jakob verbeugte sich ebenfalls, richtete sich wieder auf und sah Melanie direkt in die Augen. Sein Instinkt hatte ihn nicht getäuscht. Sie war die beste Reiterin im ganzen Land.

„Monsieur von Bouget, ich lade Sie und Ihre gesamte Familie zu meinem Ball am kommenden Wochenende ein. Seien Sie meine persönlichen Gäste, ich bestehe darauf“, sagte der Kaiser.

„Ihr seid zu gütig, Eure Kaiserliche Majestät. Wir werden selbstverständlich erscheinen“, antwortete Melanies Vater lächelnd.

Der Kaiser und der Baron von Bouget unterhielten sich eine kurze Weile, während Jakob zu seiner Schwester herüberging und sie an den Händen berührte.

„Melanie, du warst großartig! Das Rennen, du, einfach alles war der Wahnsinn! Du hättest mal die hohen Herrschaften auf der Tribüne sehen sollen, als du die Menge aufgeheizt hast. Sie waren wie hypnotisiert. Ich glaube, jemanden wie dich haben sie nie zuvor gesehen“, berichtete Jakob aufgeregt. Melanie lachte ausgelassen darüber.

„Soso, Bauchschmerzen“, sagte der Vater vorwurfsvoll und stellte sich zu ihnen. Er und der Kaiser hatten ihr Gespräch mittlerweile beendet und das Staatsoberhaupt war wieder auf die Tribüne zu seiner Familie zurückgekehrt. Melanie schaute schuldbewusst zu ihrem Vater hoch. Es stimmte, sie hatte ihn angelogen. Aber sie hatte keine andere Wahl gehabt. Hätte er sie sonst an dem Rennen teilnehmen lassen?

„Vater, es war alles meine Idee. Ich habe Melanie bei diesem Wettkampf angemeldet.“ Jakob versuchte, die Schuld auf sich zu nehmen. Aber es war zwecklos. Melanie war schlussendlich beim Rennen angetreten, obwohl sie es hätte lassen können. Nein, die Standpauke ihres Vaters musste sie sich jetzt anhören.

„Weißt du, welches verdammte Glück du hattest?“, fragte der Baron sie anklagend.

Melanie schaute ihren Vater verwundert an. Was meinte er damit? Sie schwieg und wartete seine Antwort ab.


„Schau mal auf die Rennbahn“, forderte Monsieur von Bouget seine ahnungslose Tochter auf.

Melanie tat, wie ihr geheißen, und sah auf die Rennstrecke, auf der sie vor weniger als einer Viertelstunde selbst im wilden Galopp um den Sieg gekämpft hatte. Auf der langen Geraden hatte sich eine Menschentraube gebildet. Zwei von den Leuten hielten eine große Plane hoch, damit die Zuschauer nicht sahen, was dahinter passierte.

„Der Reiter, der dich auf der Geraden zu überholen versucht hat, ist mit seinem Pferd schwer gestürzt. Dabei sind zwei weitere Teilnehmer über ihn gestolpert und ebenfalls auf dem Boden gelandet. Alle drei Reiter erlitten lebensgefährliche Verletzungen und werden vor Ort medizinisch versorgt. Das Pferd, das zuerst gefallen war, hat einen Anfall bekommen und sich nicht mehr davon erholt. Es bekam vom Tierarzt noch auf der Rennbahn den Gnadenschuss in den Kopf“, erzählte der Vater ernst.

Melanie war entsetzt und starrte ihn mit offenem Mund an.

„Stell dir vor, der verunglückte Reiter hätte dich und Nero zu Boden gerissen. Du hättest den Sturz vielleicht nicht überlebt!“, brüllte Thomas laut.

„Vater, bitte, es war meine Schuld“, mischte Jakob sich ein.

„Schweig!“, herrschte der Baron seinen Sohn an. „Unterbrich mich nicht, wenn ich rede! Du hast deine Schwester in eine lebensgefährliche Situation gebracht und sogar auf ihren Sieg gewettet! Das war überaus dumm. Ihr beide habt nicht zu Ende gedacht. Melanie, deine Kühnheit ist ein zweischneidiges Schwert. Sie kann dich im Leben weit bringen, aber auch zerstören. Du musst vorher gut abwägen, bevor du handelst.“

Jakob und Melanie standen da wie zwei begossene Pudel und schauten zu Boden. Sie hatten mit vollem Risikoeinsatz gespielt, dessen waren sie sich bewusst. Der Baron atmete tief durch und sagte: „Und trotzdem habt ihr gewonnen. Das macht mich überaus stolz.“

Die beiden Geschwister sahen ihren Vater erleichtert an und wagten es, wieder zu lächeln. Monsieur von Bouget umarmte seine Kinder gleichzeitig und hielt sie fest an sich gedrückt.

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