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Kapitel 8 - Die Warnung

  • blitz-und-donner-r
  • 25. Nov. 2024
  • 6 Min. Lesezeit

10. Mai 1875


Die Baronin von Semur stand draußen auf dem Vorhof ihres Anwesens und wartete auf die Kutsche, die gleich eintreffen würde. Sie wollte ihre Gäste unbedingt persönlich in Empfang nehmen, obwohl die Etikette es gebot, dass sie als hochangesehene Dame dies besser unterließ. Aber Madame von Semur kümmerten die Gepflogenheiten der feinen Gesellschaft schon lange nicht mehr. Sie brauchte sich nicht zu beweisen. Denn sie war eine tonangebende alte Dame, die man besser nicht herausforderte. Im nächsten Augenblick kamen zu ihrer Überraschung zwei Kutschen statt einer.


„Willkommen, Monsieur von Bouget! Ich freue mich wahnsinnig, Sie und Ihre bezaubernde Familie bei uns zu haben!“, begrüßte sie den Baron überschwänglich, als dieser aus der Kutsche stieg.

„Schönen guten Tag, Madame von Semur. Ja, da sind wir“, grüßte der Baron zurück und lächelte. Ihm folgten seine Frau und die älteste Tochter. Aus der zweiten Kutsche stiegen die übrigen drei Kinder aus.

„Kommt alle mit mir. Ich war so frei und habe den Esstisch draußen auf der Terrasse decken lassen, damit wir ein Barbecue veranstalten können. Trinken Sie Bier, Monsieur?“, fragte Madame von Semur und geleitete ihre Gäste in den Garten.

„Ja, sicher. Als Soldat habe ich früher nur Bier getrunken“, antwortete der Baron ehrlicherweise.

„Großartig! Dann werden wir uns gut verstehen“, witzelte die Gastgeberin.

Die Terrasse war im alten Landhausstil gehalten. Direkt über dem langen Esstisch war ein Stahlgerüst angebracht, an dem sich unzählige Efeuranken wanden und damit Schutz vor der Sonne boten. An den Wänden des Gebäudes wuchsen Wildrosen in verschiedenen Farben und im Garten stand eine große Weide direkt neben einem Teich. Die märchenhafte Umgebung war genau richtig, um zu verweilen. Die Anwesenden waren soeben dabei, an dem Tisch Platz zu nehmen, da traten Monika von Semur und ihr Sohn Sebastian aus dem Haus.

„O mein Gott! Da ist sie ja!“, rief Monika aufgeregt und lief mit ausgestreckten Armen direkt auf Melanie zu. „Mademoiselle Melanie, Sie verdienen meine vollste Bewunderung! Wahrlich, Ihren Mut möchte ich haben. Ich kann gar nicht in Worte fassen, wie unglaublich es ist, dass Sie das Pferderennen gewonnen haben!“

„Danke schön, Madame.“ Melanie grinste verlegen.

„Ich gestehe, dass Sie meine Erwartungen übertroffen haben“, sagte die Baronin von Semur. „Bei unserer ersten Begegnung waren Sie so schweigsam, man hätte meinen können, Sie seien stumm. Aber Sie haben mich überrascht und das gelingt nun wirklich nicht jedem.“

„Bitte setzen Sie sich beim Essen neben uns. Ich und mein Sohn würden uns gerne ausführlicher mit Ihnen unterhalten“, bat Monika und zeigte auf ihren Sprössling.

Melanie schaute neugierig zu Sebastian. Er war ein recht großer 15-Jähriger mit leicht brauner Haut, dunklen Locken, wilden braunen Augen und einem verschmitzten Lächeln. Offenbar kam er äußerlich mehr nach seinem Vater, denn zu seiner Mutter bestand keinerlei Ähnlichkeit. Melanie und Sebastian begrüßten sich und nahmen nebeneinander Platz. Sie tauschten ein paar verstohlene Blicke und lächelten freundlich.


Zum Mittagessen gab es gegrillte Forelle und saftiges Entrecôte. Alle Personen aßen sich satt, bis Thomas von Bouget aufstand und gemeinsam mit Jakob und Sebastian rüber zum Teich ging. Der junge Baron von Semur zeigte seinen Gästen die wertvollen Koi-Fische, die im Teich lebten.

Währenddessen saßen die Damen ungestört allein am Tisch und Madame von Semur eröffnete ihr Lieblingsthema: die Männer.

„Nun, meine bezaubernden jungen Ladys, wurden Sie gestern auf der Tribüne fündig, während Ihre Schwester um den Titel galoppierte?“, fragte sie direkt.

Jane und Veronika sahen die Baronin mit großen Augen an. Sie schielten verlegen zu ihrer Mutter hinüber, doch Johanna blieb ruhig und gab ihnen mit einem leichten Kopfnicken zu verstehen, dass sie nichts gegen dieses Thema einzuwenden hatte.

„Ähm, irgendwie schon“, sagte Jane zaghaft.

„Nur keine Scheu. Wir sind hier unter uns. Und es liegt mir am Herzen, Sie beide in guten Händen zu wissen. Nicht jeder feine Herr ist ein guter Fang“, erläuterte Madame von Semur ihr Anliegen.

Mit einem nervösen Blick zu ihrer Mutter sagte Jane: „Da wären der Herzog von Crussol und der Graf von Ailly, die bei uns einen recht guten ersten Eindruck hinterlassen haben.“

Monika und ihre Mutter stöhnten gleichzeitig auf.

„Da haben Sie ja gleich die zwei schlimmsten Schürzenjäger kennengelernt, die es zurzeit gibt!“, offenbarte Madame von Semur.

„O ja, sowohl der Herzog von Crussol als auch der Graf von Ailly sind heißbegehrt. Die Frauen liegen ihnen praktisch zu Füßen. Beide kommen aus steinreichen Familien mit Einfluss am kaiserlichen Hofe. So gesehen wären die Zwei keine schlechte Partie, aber ihr übler Ruf eilt ihnen voraus. Ihre Liebschaften dauern im Durchschnitt nur wenige Monate und enden damit, dass die armen jungen Frauen von ihnen verführt werden und sie ihren Ruf verlieren. Deswegen warne ich Sie ausdrücklich: Verfangen Sie sich nicht in deren Fäden! Sie würden sich nie wieder davon erholen“, beendete Monika das Schauermärchen.

Jane und Veronika schauten entsetzt. Ihre Traumprinzen waren in Wahrheit unverbesserliche Halunken?


„Aber das kann nicht sein. Der Graf von Ailly benahm sich so wohlerzogen und charmant“, versuchte Veronika ihren Schwarm zu verteidigen.

„Verstehe, er hat Ihr Interesse geweckt. Dann hat er sein Ziel fast erreicht. Der Rest ist reinstes Kinderspiel für den erfahrenen Herzensbrecher“, stellte Madame von Semur fest.

Veronika schüttelte ungläubig den Kopf und wirkte niedergeschlagen.

„War da nicht noch ein Dritter im Bunde, Mutter? Ich meine, es gab da einen weiteren Tunichtgut. Wie hieß er? Der Name fällt mir nicht ein“, überlegte Monika angestrengt.

„Herzog Vincent von Guise“, ließ die Baronin verlauten.

„Vincent von Guise?“ Johanna von Bouget mischte sich in das Gespräch ein. „Mein Mann hat sich gestern mit ihm recht freundlich und lange auf der Tribüne unterhalten. Ich stand daneben und konnte das Gespräch mitverfolgen. Monsieur von Guise machte einen gescheiten Eindruck. Außerdem ist er unser Nachbar. Sein Landsitz liegt weiter südlich Richtung Meer. Er erzählte, dass er verheiratet sei und ein Kind habe.“

„Ja, dann reden wir über denselben Mann“, bestätigte Madame von Semur und trank genüsslich ihren Rotwein.

„Genau, Vincent von Guise, so lautet sein Name. Er und die anderen beiden Kandidaten sind eng befreundet und man sollte sich vor diesem Trio in Acht nehmen. Egal ob Frau oder Mann. Denn mehr Macht und Sexappeal sind kaum möglich. Gott bewahre denjenigen, der ihren Zorn heraufbeschwört. Sie vernichten jeden, der sich ihnen in den Weg stellt“, erzählte Monika weiter. „Besonders der Herzog von Crussol hat eine sehr traditionelle Einstellung bezüglich der Rolle der Frau. Wenn Sie keine devoten und gehorsamen jungen Damen sind, dann liegen Ihre Erfolgsaussichten bei ihm bei nahezu null.“

Veronika wirkte wie vor den Kopf gestoßen und schaute besorgt auf ihren leeren Teller. Jane dagegen behielt wie gewohnt die Fassung und nickte stumm als Zeichen dafür, dass sie die Warnung verstanden hatte.


„Wen ich Ihnen stattdessen wärmstens empfehle, ist der einzige Sohn des Grafen von Bellagarde“, sagte Madame von Semur und versuchte, den Blickkontakt zu den zwei Schwestern aufzubauen, die enttäuscht dreinschauten.

„Er heißt George und ist der Traum jeder Schwiegermutter. Nur leider ist er ein scheues Reh und äußerst selten auf Bällen oder irgendwelchen Veranstaltungen anzutreffen. Man munkelt, es hänge damit zusammen, dass er von den heiratswilligen jungen Damen genervt sei, da sie nur an seinem Vermögen interessiert seien. Also, falls Sie tatsächlich diesem seltenen Diamanten begegnen sollten, dann fragen Sie ihn nicht nach seinem Geld“, scherzte die alte Baronin.

Doch die Aufmunterung schlug fehl. Jane und Veronika sahen weiterhin betrübt aus.

„Wie dem auch sei. Kommen wir zu Ihnen, Mademoiselle Melanie. Der Mann, der Sie zu erobern versucht, muss über beachtliche Ausdauer verfügen, um bei Ihrem rasanten Tempo Schritt zu halten“, bemerkte die Baronin von Semur lachend.

„Wie meinen Sie das, Madame?“, fragte Melanie irritiert und sah verständnislos zu den anderen.

„Na, dass Ihr Zukünftiger das Stehvermögen eines Hengstes besitzen muss, um Sie glücklich zu machen!“, antwortete Madame von Semur und brüllte los vor Lachen. Monika stimmte in das Gelächter ein. Die anderen Anwesenden sahen etwas verlegen drein. Nur Melanie blieb die Bedeutung dieser Aussage schleierhaft.

„Mama, wie ist das gemeint?“, flüsterte sie ihrer Mutter zu, die wiederum mit ihrer Hand eine wegwerfende Geste machte.

„Madame, ich pflege bei meinen Töchtern einen anständigen Erziehungsstil. Weshalb ich Sie bitte, derartige Bemerkungen in ihrer Gegenwart zu unterlassen“, bat Madame von Bouget höflich, aber bestimmt.

Die Gastgeberin und ihre Tochter verstummten. Sie schauten überrascht, jedoch nicht weiter verärgert über diese Zurechtweisung.

„Meine Lieben“, sagte Johanna zu ihren drei Töchtern, „wollt ihr eurem Vater nicht Gesellschaft leisten?“


Die jungen Damen erhoben sich von ihren Plätzen und schlenderten in Richtung des Gartens. Sebastian überreichte Melanie einen Behälter mit getrockneten Maden und gemeinsam fütterten sie die Koi-Fische.

Als Madame von Semur sicher war, dass die jungen Leute außer Hörweite waren, stellte sie eine Frage an die Baronin von Bouget. „Sie haben Ihre Töchter über den geschlechtlichen Akt nicht aufgeklärt?“

„Jane und Veronika schon, weil sie in die Gesellschaft eingeführt wurden. Aber bei Melanie warten wir noch zwei Jahre. Es ist besser, wenn sie davon nichts weiß, bevor sie auf dumme Gedanken kommt. Sie ist ein temperamentvolles Mädchen und ist Experimenten gegenüber nicht abgeneigt“, erklärte Madame von Bouget.

„An Ihrer Stelle würde ich es mir noch mal ernsthaft überlegen. Nächstes Wochenende ist der Ball im Palast des Kaisers, zu dem Ihre Familie ebenfalls eingeladen ist. Und es mag sein, dass Jane und Veronika wunderschön sind und den Männern mühelos den Kopf verdrehen, aber es ist Ihre jüngste Tochter, die aus der Menge heraussticht. Die Kavaliere werden Schlange stehen, um sie kennenzulernen, weil Melanie der Champion ist – und somit eine Trophäe. Jeder Mann wird gewillt sein, sich mit ihr zu schmücken. Sie sollten sie deshalb vorwarnen, bevor sich die hungrige Meute auf sie stürzt“, versuchte die alte Dame die Baronin von Bouget zu überzeugen.

„Melanie hat noch nicht vor zu heiraten, deswegen wird sie potenzielle Kandidaten abweisen“, stellte die Mutter klar und schaute dabei entschlossen.

„Wie Sie meinen. Es ist Ihre Tochter“, kapitulierte Madame von Semur. Sie hoffte dennoch, dass sie sich irrte und Melanie den kommenden Ball im kaiserlichen Palast ohne Schaden überstehen würde.

 
 
 

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