Seelenruhig schreite ich durch die Menge. Wie ein großer Killerwal teile ich die strömenden Massen. Ich gleite in die Richtung, die für mich sinnvoll erscheint, unabhängig davon, ob jemand folgt. Das Gedränge um mich herum wird seit geraumer Zeit immer hektischer. Laute Rufe sind zu hören. Irgendetwas muss den Schafen Angst einjagen. Und schon bald sehe ich die Ursache für den Tumult. Ein großer schwarzer Hund mit fletschenden Zähnen treibt einige Ausreißer in die große Herde zurück und schnappt nach deren Hinterbeinen. Die Rebellen schreien jämmerlich und humpeln resigniert und mit blutigen Leibern zurück in die Reihe. Niemand von ihnen hat jetzt noch den Mut, wieder den Sprung in die Freiheit zu wagen. Ein trauriger Anblick auf das herrschende System. Entweder du gehorchst oder du wirst bestraft.
„Ob sie wohl fliehen wollten?“, geht es mir durch den Kopf. Früher habe ich solche Aufständischen bewundert. Mittlerweile habe ich für sie nur ein müdes Lächeln übrig. Auch ich habe die Unverfrorenheit besessen, meinen Unmut über das System laut auszusprechen und kassierte dafür prompt die Verbannung von allen öffentlichen Plätzen. Ich konnte meine Stimme nicht mehr erheben.
„Freie Meinung ist nur dann gewünscht, wenn sie dem kollektiven Narrativ entspricht“, so lautete das Fazit meiner damaligen Lektion. Seit jener Zeit bin ich klüger, aber vor allem kühner geworden. Ich habe begriffen, dass nur einflussreiche Personen in der Öffentlichkeit tatsächlich Gehör finden. Kleinbürger können nur in der Masse etwas bewirken, doch eben diese Masse wird manipuliert und gelenkt. Oder noch besser, die Gesellschaft wird politisch gespaltet. Die rivalisierenden Lager bekämpfen sich dann gegenseitig und verlieren den Blick auf den wahren Übeltäter.
In der Ferne sehe ich den Hirten auf einem schwarzen Felsen sitzen und die braven Schäfchen liebevoll streicheln. Er gibt ihnen frische Kräuter zu Fressen und verspricht ihnen eine glorreiche Zukunft. Seine Schützlinge fühlen sich vollkommen sorglos und schwelgen im Glück.
Ich runzle die Stirn und wende meinen Blick davon ab. Um nichts in der Welt möchte ich wieder zurück. Ahnungslosigkeit und Naivität gehören endgültig der Vergangenheit an. Mein Kopf platzt nur so vor neuen Erkenntnissen und der Hunger nach weiterem Wissen ist noch lange nicht gestillt. Als Ausgestoßene habe ich nun die Freiheit, meine Entscheidung selbst zu wählen und bin unabhängig von der Menge. Abgesehen davon, bin ich kein Schaf mehr, sondern eine Löwin umhüllt von lodernden Flammen in allen Farben des Spektrums. Vermutlich bin ich es schon immer gewesen, doch erst vor Kurzem meiner wahren Macht bewusst geworden. Der Nachteil dabei ist, ich fühle mich zunehmend einsam und orientierungslos. Die neu erlangten Fähigkeiten stellen mich vor eine Herausforderung, denn grenzenlose Kreativität und freies Denken sind Gift in einer Gesellschaft, die auf Leistung und Gehorsam abgerichtet wurde.
Ich wandere weiter durch die Menge und lasse meine Gedanken schweifen. Plötzlich entdecke ich ein uraltes Symbol für das göttlich Weibliche auf einer Säule und bleibe stehen. Erst vor kurzem habe ich ein Buch über die heidnischen Religionen gelesen und deren Merkmale studiert.
„Was macht dieses Zeichen dort?“, frage ich mich. Vermutlich wäre ich früher achtlos daran vorbeigelaufen, aber jetzt kenne ich seine Bedeutung und mein Interesse wird geweckt. Suchend blicke ich mich um. Und tatsächlich finde ich noch weitere Symbole und Schriftzeilen, die meine Aufmerksamkeit auf sich ziehen. Aufgeregt folge ich ihnen und bleibe schließlich vor einem meterhohen Zaun stehen. Neugierig spähe ich durch das massive Gitter hindurch und erblicke auf der anderen Seite unzählige Gemälde und Bücher. Sie sind offen für alle Augen und dennoch unerreichbar. Bewacht von einer Schar von Wölfen und Löwen, muss dieses Archiv wohl unvorstellbar wertvoll sein.
Mein Herz beginnt schneller zu schlagen. Ich habe tatsächlich einen Wissensschatz von unbegreiflichem Ausmaß gefunden! Doch wie gelange ich dorthin? Eine ganze Weile bleibe ich vor dem Zaun sitzen und zerbreche mir den Kopf. Die bunten Flammen um mich herum werden dabei immer stärker und nagen an dem Zaun, bis ein mächtiger Löwe hinter der Abgrenzung sie bemerkt. Er kommt auf mich zu und bleibt direkt vor mir stehen. Ich sehe ihn an und spüre die respekteinflößende Aura, die von ihm ausgeht. Der Löwe hat eine pechschwarze Mähne. Seine roten Augen betrachten mich abschätzend. Vermutlich fragt er sich, ob ich Freund oder Feind bin.
„Was willst du hier?“, fragt er schließlich mit donnernder Stimme.
Gänsehaut breitet sich auf meinem ganzen Körper aus und ich atme ein paar Male ein und aus, bevor ich schließlich antworte: „Ich möchte mein Wissen mit euch teilen und im Gegenzug euer Wissen erlangen.“
„Wieso sollte dein Wissen für uns vom Wert sein? Abgesehen davon bist du nur eine Löwin“, kommentiert er abwertend, wendet sich ab und geht.
„Mich zu verspotten, kommt dich noch teuer zu stehen!“, lauten meine Gedanken, die ich aber nicht ausspreche. Soll sich dieser aufgeblasene Snob doch sicher fühlen. Stattdessen sitze ich mit grimmiger Miene da und betrachte den Wissensschatz hinter ihm. Nicht umsonst wird es dort, wie in einem Tresor aufbewahrt. Es muss von sehr großem Nutzen für ihn sein. Dann schaue ich hoch zu dem riesigen Zaun. Einfach drüber zu springen, würde nicht funktionieren, es sei denn, ich bringe das Metall zum Schmelzen.
„Könntest du bitte erneut in allen Regenbogenfarben leuchten?“, fragt mich plötzlich eine Stimme neben mir. Ich drehe verwundert meinen Kopf um und sehe, wie eine Gruppe von Schafen mich erwartungsvoll anblickt. Lächelnd erfülle ich ihnen den Wunsch und die Gruppe hüpft vor Freude. Ich wiederhole es und immer mehr Schafe werden auf mich aufmerksam. Selbst der Hirte schaut mit einem ausdruckslosen Gesicht zu mir herüber und schweigt. Mein Treiben ist ihm nicht ganz geheuer.
„Sowohl der Löwe als auch der Hirte wissen nicht recht, ob sie mir trauen können“, denke ich und muss schmunzeln. „Das ist wohl das bittere Los eines freien Denkers.“
Wie gern würde ich jetzt den Wissensschatz durchwühlen und mich daran ergötzen, aber dazu später. Denn nun ist da etwas viel Wichtigeres aufgetaucht, das mich in seinen Bann zieht: die Freiheit. Genau in diesem Augenblick bin ich in der Lage die Welt selbst zu erforschen, ohne jegliche Vorgaben. Bei dieser Erkenntnis lodert mein Feuer in einer neuen Intensität und ich kann mein Glück kaum fassen. Vielleicht ist das meine Bestimmung als Freigeist? Ein Leuchtfeuer zu sein. Ein Leitstern. Mit Riesensprüngen entferne ich mich wieder vom Zaun und beginne meine eigene Entdeckungsreise. Der Hirtenhund wagt es nicht, mich zurück in die Herde zu treiben, zu groß ist seine Furcht vor meinen Flammen.
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